Kreatives Handwerk

Eine essayistische Einleitung von Mascha Dabić

„Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“, lautet ein gern zitierter und schwer zu widerlegender Satz des Philosophen Ludwig Wittgenstein. Dass die Grenzen der eigenen Welt nicht unverrückbar bleiben müssen, dafür sorgen unter anderem Literaturübersetzer·innen.

Kunst verbindet: Menschen, Kulturen, Welten, Ideen. Das gilt auch für die Literatur, allerdings wären literarische Texte in ihrer jeweiligen Sprache eingeschlossen, gäbe es nicht das Literaturübersetzen. Erst die akribische Arbeit von Übersetzer·innen, die solides Handwerk mit Sprachgefühl und Kreativität verbindet, ermöglicht die Entstehung der Weltliteratur und öffnet damit exklusive Türen, durch die man sich – lesend, denkend und phantasierend – den einen oder anderen Mikrokosmos erschließen kann.

Literaturübersetzer·innen sind in erster Linie äußerst aufmerksame Leser·innen. Der gewöhnliche Leser kann eine langweilige Textstelle getrost überfliegen. Die Übersetzer·in dagegen, die muss da durch: Satz für Satz, durch sämtliche Metaphern, Wortspiele und Launen des Autors, ohne dabei den Gesamttext als Ganzes aus den Augen zu verlieren. Es ist ein Balanceakt zwischen der notwendigen Treue zum Original – sodass dabei nicht eine Nachdichtung herauskommt – und der ebenso notwendigen Freiheit, um mithilfe von kreativen Lösungen in einer anderen Sprache das zu erzielen, was Autor·innen in ihrer eigenen Sprache auszudrücken versucht haben.

Was ist das Besondere am Literaturübersetzen? Was ist der Unterschied zu Fachtexten? Nun, da wäre zunächst, ganz profan, die ökonomische Dimension: Das Literaturübersetzen zeichnet sich durch eine ausgesprochen schlechte Bezahlung aus – etwa zwei Drittel weniger als bei anderen Textsorten. Aber dank unermüdlicher Bemühungen von Berufsverbänden verbessern sich die Rahmenbedingungen allmählich – auch wenn sie noch so einiges zu wünschen übrig lassen.

Literatur zu übersetzen bedeutet, den Versuch zu machen, alle Ebenen und Intentionen eines Textes zu durchdringen und in einer anderen Sprache so adäquat wie möglich wiederzugeben. Ein Unterfangen, das zwangsläufig scheitern muss – einerseits. Und andererseits ist es erstaunlich zu merken, wie gut das Übersetzen meistens funktioniert: so gut eben, dass man den Transfer häufig gar nicht bemerkt. Womit wir auch schon beim nächsten Punkt wären: die Unsichtbarkeit, oder sagen wir Unauffälligkeit, die bei dieser sprachlichen Tätigkeit ein Qualitätsmerkmal ist. Übersetzungen fallen als solche meist nur dann auf, wenn es Fehler oder Mängel gibt, denn der Anspruch an übersetzte Texte lautet: glatt und fehlerfrei. Und doch wäre es fatal, würden sich Literaturübersetzer·innen mit einer solch defensiven Herangehensweise begnügen; zum Literaturübersetzen gehört auch Mut dazu und das Vertrauen in die eigenen stilistischen Fähigkeiten.

Bei Neuübersetzungen spricht das Feuilleton gerne davon, dass ein Werk „im neuen Glanz“ erstrahlt. Ein solcher neuer Glanz bleibt dem Publikum in der Originalsprache verwehrt, denn Klassiker werden nicht neu geschrieben, wohl aber von Zeit zu Zeit neu übersetzt. Auch wenn hinter solchen Unternehmungen verkaufstechnische Überlegungen stehen, ist es erfreulich, wenn ein Original auf diese Weise neu belebt wird, wie eine Melodie, die durch jede Neuinterpretation eine andere Nuance offenbart.

Auch die Tätigkeit des Literaturübersetzens sieht sich Neuerungen gegenüber. Die Entwicklungen in der künstlichen Intelligenz werfen die Frage auf, ob Literatur ebenso überzeugend von Maschinen übersetzt werden kann. Oberflächlich mag das gelingen; die vielschichtigen Bedeutungen von literarischen Texten zu erkennen, zu interpretieren und adäquat in eine andere Sprache zu übersetzen, bleibt aber wohl eine kreative Leistung, die sich der Automatisierung entzieht.

Mascha Dabić ist Übersetzerin von Literatur aus dem Balkanraum, Dolmetscherin, Autorin und unterrichtet an der Universität Wien.